Architektur & Innenraum: Das neue Selbstbewusstsein der Gesundheitsbranche
Die Branche hat erkannt, das sie durch schwere Pandemieverläufe absolut systemrelevant geworden ist. Mit diesem wichtigen Vorsprung gegenüber fast allen Handelsmärkten darf sich die Gesundheitsbranche mit einer neuen Souveränität präsentieren: Der folgende Beitrag verdeutlicht, wie Kompetenz und Tradition, die wesentlichen Standbeine der Branche, durch professionelle Architektur- und Innenraumkonzepte für die Kunden sichtbar gemacht werden können
Frau Park, was hat diese Frau am Bein getragen?“ So lautete unlängst die Frage einer Studentin in einem Design-Workshop. „Das“, so antwortete die Autorin, „ist eine Prothese.“ „Wow, phänomenal“, war der abschließende Kommentar aus dem Mund einer 21-Jährigen. Dieses „Wow“ sagt bereits viel: positives Erstaunen, technische Begeisterung und im Sinne der prothesentragenden Frau eine Befürwortung hin zur Hightech-Verssorgung für eine bessere Lebensqualität.
Genau diesen Aha-Effekt möchte ein Betriebseigentümer bei seinen Kunden erzeugen, wenn diese seine Betriebsflächen betreten. Aber wie gelangt man zu dieser Begeisterung für einen orthopädischen, rehalastigen oder Sanitätshaus-Fachbetrieb? Ist der Kunde erst einmal diese Chance nutzen, um die Verweildauer über die übliche Versorgung hinaus zu steigern.
Über den eigenen Kosmos hinaus
Erst die intelligente Verzahnung während der Planungsphase gewährt den räumlichen Komponenten wie Showroom, Anproben, Werkstätten, Verwaltung und Logistik ein vielversprechendes Erscheinungsbild beim Kunden.
Das positive Image und eine innovative Außendarstellung eines Gesundheitsbetriebs sind das Ziel. Es geht darum, die Kompetenz der Betriebe durch ein unverwechselbares und möglichst individuelles Profil darzustellen. Die Branche wird sichtbar!
Erst wenn Tradition, Technik und Shopping in ein modernes Gesamtbild der Betriebe transferiert werden können, ist das Ziel erreicht. Die aufgezählten Impulse sollen beispielhaft umsetzbare Lösungsansätze der Planungsinhalte erläutern.
Von hinten nach vorne planen
Selbstverständlich ist eine modern designte Verkaufsfläche sehr ansprechend. Doch damit diese in den Kundenprozessen funktioniert, muss man anfangen, den Betrieb quasi von „hinten“ her zu strukturieren: mit dem Lager. Das eigentliche Betriebsgebäude betrachtet, wird die Größe eines Lagers oft unterschätzt, zumal durch den demografischen Wandel in der Branche noch erhebliches Wachstum zu erwarten ist.
Potenzial an Stauraum vorzuhalten ist zu Beginn der Gebäudeplanung von Beriebsflächen unbedingt zu berücksichtigen. Eine reale Einschätzung mithilfe von Logistikplanern zu erhalten, ist betriebsrelevant. Insbesondere mit Blick ins Lager sowie den Platzbedarf für das Rangieren der Waren ist es unumgänglich, diese Prozesse immer wieder in der Planung durchzuspielen.
Gerade im Hinblick auf das mit dem Lager oft kombinierte Thema Reinigung oder Desinfektion ist überlegenswert, ob man die Rehaprodukte noch selbst „absprüht“ oder sich eine raumsparende „Waschanlage“ aufstellt. Das schnelle Handling von Lager zur Verkaufsfläche, damit die Kundschaft größere Ware ad hoc kaufen kann, ist für Unternehmen ein Servicebaustein. Selbstverständlich ist es eine Planungsfrage, ob der Standort des Hauptlagers extern oder intern eines Betriebsgebäudes ist. Neue Konzepte, die sogar automatisierte Transporte in Betracht ziehen, sind nicht mehr abwegig, z. B. durch ein geschossübergreifendes Paternosterprinzip.
Handwerk zeigen oder verstecken?
Die Werkstatt ist der Kern eines Gesundheitsfachbetriebes – und gleichzeitig der Teil des Betriebsgeländes, der in der Vergangenheit für die Kundschaft meist verschlossen geblieben ist. Dabei bietet sie Umsatzpotenzial hoch Zehn. Sämtliche Handgriffe, die auf die Kompetenz eines Sanitätshauses schließen lassen, medizinische Versorgungsthemen und notwendige Reparaturen technischer Hilfsmittelgeräte werden dort ausgeführt. Arbeitsprozesse, die sich enorm wandeln, von der gipsfreien Anprobe zum Digitalstudio, ein ScanLAB oder 4D-Fräsroboter: Was haben diese innovativen Abläufe für einen Einfluss auf die Raumplanung? Lärm, Schmutz und Technologiefortschritt: Die Wege der Mitarbeiter diktieren die Größe und Lage der Werkstattbereiche mit.
Der aktuelle Trend durch Social-Media-Kommunikation Meinungen offenzulegen, hat sich in der Wissensgesellschaft von heute etabliert und lässt ein neues Anforderungsprofil von Kunden entstehen. So wird heutzutage mehr Wert auf Transparenz und hierarchiefreie Abläufe gelegt: Der Kunde und der Versorger werden immer näher auf eine Ebene gebracht.
Neue Emotionalität und entfachtes Interesse der Kundschaft für technisches Know-how sind ein großes Plus, um verstärkt wahrgenommen zu werden. Schafft der Einblick in die Produktion die Nähe zum Kunden? Gibt die sichtbare Kompetenz mehr an Vertrauen zum Kunden? Kennen wir bereits die offene Küche im Restaurant, in der wir gerne selbst Hand anlegen würden? Gleiche Wirkung hat eine Werkstatt mit Einblick in das Tun und Handeln hinter den Maschinen oder ein Werkstatt-Konzept nach Open-Space-Charakter, bei dem Arbeitsabläufe fließend ohne Raumtrennung einsehbar sind.
Die herkömmlichen Abläufe und traditionellen Fertigungsprozesse werden hinterfragt. Oder bedeuten neue Versorgungswege und Werkstattprozesse, die Raumplanung zu reformieren? Das Wort Erlebnis gewinnt an Relevanz, wenn der Patient und Kunde während der Fertigung seines medizinischen Hilfsmittels zusehen kann, anstatt die eher langweilige Wartezeit in kleinen Anproben mit wenig Animation zu verbringen. Der Mensch rückt mehr in den Mittelpunkt, der Kunde rückt mehr in den Fokus.
Potenzial für die „verlängerte“ Verkaufstheke
Die fortgeschrittenen und hochentwickelten Versorgungsthemen bedingen eine Sortimentserweiterung. Von dieser erwartet der Kunde, dass sie real dargestellt wird. Somit hat die Fensterbank als Ablage für Prothesen und Musterproben ausgedient. Um mehr als die Gehrampe und den Gehbarren in einem Raum zu installieren, benötigt es Höhe und Platz.
Eine zeitgemäße Anprobe für den orthopädischen und prothetischen Gesundheitsmarkt zu schaffen, ist komplex. Hier geht es um mehr, als nur um das Thema „Wohlfühlen“: Technik und Show müssen für Kunden in diesem verlängerten Verkaufstresen, der Anprobe, erlebbar sein. Die am inhaltlichen Maßstab angepasste Farbgestaltung, Lichttechnik und ein Materialkonzept sind der Schlüssel zum Erfolg. Zugleich ist es eine Herausforderung an Planer, gleichwohl welcher Fachbereichsstrategie gefolgt wird, möglich mit naher Positionierung zum Showroom zu verzahnen.
Welchen Mehrwert gewinnt ein Betrieb durch intensive Werkstatt- und Anprobenplanung? Die Wirtschaftlichkeit durch einfachere und prozessübergreifende Abläufe mit Kunden und Patienten spornt nicht nur die Mitarbeiter an. Eventuell kann eine Multifunktionalität der Anproberäume einen Lösungsansatz darstellen.
Über das Rezept hinaus sind mit dem Patienten weitere Versorgungen oder Produktverkäufe zu generieren. Die Tech- nik als Kompetenzausdruck darf nicht unter Verschluss sein, sondern ist ein weiterer Baustein für den Erlebnisfaktor, um die Sichtbarkeit der Branche zu erhöhen.
Daten und Clouds – Funktion und Fun
Zu einem neu geplanten Gebäudekonzept gehört auch das Thema „Nachhaltigkeit“. Durch den Wandel zu einer papierlosen und digitalisierten Gesellschaft ist mehr Raum für zweckmäßiges Mobiliar bereitzuhalten, anstatt Stauraum für Ordnerberge zu verschwenden. Dieses Phänomen durchdringt die gesamte Verwaltung eines Gesundheitsfachbe- triebes.
Für Mitarbeiter spürbar größere Büroflächen zu schaffen, wichtige Kommunikationszonen bereitzustellen und damit kreatives Gedankengut im eigenen Betrieb zu fördern, gehört ebenfalls dazu. »Citizen Office“ lautet ein denkbares Planungskonzept, das oft mehr Arbeitsplätze unterbringt als minimierte „Zweierzellen“.
Natürlich gibt es Arbeitsplätze, die in jedem Fall der Schalldichtheit bedürfen, z. B. eine Telefonzentrale. Aber müssen Außendienstmitarbeiter bei wenig Büropräsenz wirklich ein komplett ausgestattetes Arbeitsumfeld für sich beanspruchen? Oder kann mehr Flexibilität durch Homeoffice-Arbeitsplätze entstehen?
Heutzutage müssen Geschäftsfüh-rer für viele Ansätze zum Thema „Büroarbeitsplatz“ offen sein. Büroplanung ist deshalb ein extrem wichtiges Kerngebiet der Raumplanung innerhalb eines Betriebsgebäudes.
Für die Mitarbeiter gilt es, sich ebenfalls „in Schale zu werfen“: Tischkicker, ein Mini-Fitnessraum oder eine Chill-out-Zone bedürfen eines zusätzlichen Platzangebots.
Und was steht auf dem Speiseplan? Kann eine Kantine tagsüber die Essensaufnahme bedeuten und sich am Abend zum Event-Cooking mit Loungecharakter wandeln? Die Möglichkeiten der Raumnutzung bedürfen höchsten planerischen Geschicks, um die Anforderungen der Bauherren für ein spezielles Raumkonzept zu erfüllen.
Shopping mit Erlebnis
Wie wichtig ist es, dass die Kompetenz im Showroom, d. h. auf der Verkaufs- Gesundheitsbetriebes im Design und der Raumplanung für den Kunden erlebbar abzubilden, ist die hohe Kunst von Innenarchitekten. Schlussendlich offenbaren sich die Qualität und das Potenzial eines Gesundheitsfachbetriebes binnen weniger Sekunden – sobald der Kunde die Verkaufsfläche betritt. Das Sanitätshaus ist die gebaute Strategie eines Unternehmens und Marketingmedium Nummer eins. Die Homogenität und Funktionalität der räumlichen Gesamtstruktur zeigt sich auf dieser wichtigsten Verkaufsfläche.
Wir müssen in die Zukunft blicken, wenn die Digitalisierung durch das E-Rezept an Fahrt gewinnt und ein Sanitätshaus stärker optisch in Erscheinung treten muss. Der Kunde muss Vertrauenswürdigkeit, Wohlgefühl und Begeisterung ad hoc auf der Verkaufsfläche spüren.
Der Vorteil der Gesundheitsbranche, ihr technisches Know-how und die Produkte zu präsentieren, ist wesentlich im Vergleich zum üblichen Handelsmarkt. Die Versorgungsbereiche wie Bandagen, Kompression und Einlagen dürfen mit all dem sortimentsübergreifenden Warenumfeld dargestellt werden – und zwar nicht in Schachteloptik, sondern als reale Produkte. Erst durch ein vom Fachplaner erstelltes und gelungenes Grundrisskonzept ist es möglich, Einsicht in die Werkstatt oder auf ein technisches Messgerät im Showroom zu haben.
Vor allem die Größe einer Fachhandelsfläche hinterlässt einen nachhaltigen Eindruck beim Kunden. Oder bereits viel früher, noch vor dem Eintritt in ein Sanitätshaus, wenn es dem Planer gelungen ist, den Kunden einen Blick durch das Schaufenster in eine Kabine erhaschen zu lassen. Das Shoppingerlebnis beginnt somit sehr früh und findet stationär berets vor der eigentlichen Ladenfläche statt. Hier gibt es Show-Potenzial hoch drei, um Fachkompetenz zu zeigen, z. B. durch Dekorations-Frauenbeine mit Kompressionsstrümpfen, ausgestellte Einlagen, die wahrnehmbar werden, und eine modern gekleidete Figurenfamilie, die mit Bandagen ausgestattet ist.
Outdoor wird Indoor
Wenn sich der Kunde mit einem mobilen Fahrgerät – sei es Auto, E-Bike oder Scooter – dem Gebäude eines Gesundheitsbetriebs nähert, muss er sich gleichermaßen auf der Außenfläche angenommen fühlen. Es muss heutzutage dem Kunde noch mehr geboten werden: Erlebnis first! Leuchtende Großmotive im Schaufenster und positive Gesundheitsdekoration wirken einladend.
Je nach Größe der vorhandenen Außenfläche kann das elektrische Aufladen des eigenen Autos oder Zweirads sehr dienlich sein. Das Thema Service kann noch besser interpretiert werden, wenn ein durch die Pandemie bedingtes Phänomen, ein Drive-in-Schalter, vom Kunde genutzt werden kann. Bei all diesen kreativen Ideen muss der Sinn erkenntlich sein, und die Gebäudeplanung muss auf diese Impulse eingehen.
Grau ist das neue Grün
Veränderungen in der Gesellschaft führen zu einer Reform der Ansprüche an Gebäude und Innenräume für Hilfsmittelprodukte. Neue Bauformen, innovative und nachhaltige Materialien und Mut zu andersartigen Farbkonzepten sind Ausdruck des neuen Zeitgeistes. Damit die Kompetenz der Betriebe durch in gebautes Betriebsprofil dargestellt werden kann, benötigt es eine Planung mit Fachwissen und den Einsatz von speziellen Architektur- und Raumkonzepten. Innovation und Handwerk, Shopping und Versorgung, Beratung und Verweilen und vor allem Wohlfühlen und Erleben als Ergebnis von Planungskonzepten für die Gesundheitsbranche – all das können nur Branchenkenner umsetzen.
Dieser Fachartikel stammt aus der MTD 2/22 und ist auch online auf www.mtd.de einsehbar.